Mut zu energiepolitischer Beinfreiheit
12.06.2025
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Wie die Strom- und Wärmewende gelingen kann
Deutschland hat sich ehrgeizige Klimaziele gesetzt. Auch die neue Bundesregierung wird daran festhalten. Damit die Bevölkerung die Energiewende vor Ort mitträgt, sollte die Politik auf mehr Pragmatismus und weniger Paternalismus setzen. Mit dem Koalitionsvertrag ist ein Anfang gemacht.
Von Dr. Michael Maxelon

Auch wenn andere Krisenherde beträchtlichen Ausmaßes gerade unsere ganze Aufmerksamkeit beanspruchen: Der globale Klimawandel ist Realität, und er schreitet weiter voran. Die Lebensgrundlagen auf diesem Planeten für die nächsten Generationen zu bewahren, ist die große, alles entscheidende Aufgabe, die die Industrienationen gemeinsam stemmen müssen.
Deutschland hat sich verpflichtet, bis zum Jahr 2045 klimaneutral zu werden. Dass auch das neue schwarz-rote Regierungsbündnis sich zu diesem Ziel bekennt, ist so ambitioniert wie richtig. Zumal Deutschlands Industrien ihre Anstrengungen inzwischen auf die Dekarbonisierung von Prozessen und Produkten ausgerichtet haben. Die notwendige Transformation ist eingeläutet.
Akzeptanz steht auf dem Spiel
Auf der Strecke zwischen politischer Willenserklärung und Vollzug ist das Jahrhundertprojekt allerdings vom Pfad abgekommen. Die Technologien sind da. Doch der Umbau des Energiesystems ist ins Stocken geraten. Angesichts der historischen Größenordnung der Energiewende wachsen Zweifel an der Umsetzbarkeit, und längst nicht mehr nur hinter vorgehaltener Hand werden die hohen Ausbauziele der Erneuerbaren Energien Kapazitäten und des Stromnetzes infrage gestellt. Zu gigantisch erscheinen die Finanzbedarfe, zu risikoreich die Belastungen für die Allgemeinheit, zu wenig am Bedarf des Kunden ausgerichtet.
„Wer soll das bezahlen?“ Im bangen Kreisen um diese Frage blieb die Ampelkoalition Antworten schuldig. Die kommende Bundesregierung hat die Blockade nun mit einer Reihe energiepolitisch richtiger Handgriffe gelockert. Das Zieldreieck aus Klimaschutz, Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit, zuletzt durch den verengten Blick auf ökologische Erfordernisse und ideologisch getriebenen Vorgaben verzerrt, wurde per Koalitionsvertrag geradegezogen. Finanzierbarkeit und eine sichere Versorgung sind neben Klimaschutz wieder gleichberechtigte Anforderungen. Das ist ein guter Ausgangspunkt, um das zu tun, wofür Versorgungsunternehmen angetreten sind: die Energiewende am Industriestandort Deutschland tatkräftig voranzubringen.
Rückkehr zu rationaler Ordnungspolitik
Anlass zu Optimismus gibt vor allem die Aussicht, dass Energieunternehmen nach Jahren des klimapolitischen Dogmatismus wieder freier denken und planen dürfen. Sich vom Diktum „all electric“ zu verabschieden, ist ein Gamechanger. Es erlaubt die Nutzung bereits bestehender Infrastrukturen, was einerseits die Investitionsaufwände in eine klimaverträgliche Energielandschaft deutlich reduzieren dürfte. Gleichzeitig gewinnen die Unternehmen an Spielraum, um aus dem Markt der Möglichkeiten, die pragmatischste Technologielösung im Einklang mit dem energiepolitischen Zieldreieck umzusetzen.
Die neue unternehmerische Beinfreiheit macht es zudem möglich, die Eigenheiten einer zunehmend dezentralen Energieerzeugung noch besser zu verstehen. Je intelligenter Versorger und Netzbetreiber die Volatilität managen und Flexibilitäten steuern können, die mit dem klimafreundlichen Ausbau der Erneuerbaren zwangsläufig einhergehen, desto kosteneffizienter lässt sich auf lange Sicht das gesamte System betreiben.
Volkswirtschaftlich und auch für die Gesellschaft macht sich diese Rationalität bezahlt. Wo weniger zusätzliche Kapitalkosten anfallen, weil die Energiewende entideologisiert wird und den Versorgern für die Transformation wieder mehr Zeit und Wege offenstehen, werden auch Wirtschaft und private Haushalte weniger stark durch Folgekosten belastet. Anders gesagt: Energiepolitischer Pragmatismus ist gut investiert, federt er doch finanzielle und soziale Härten ab.
Energiewende vor der Haustür
Diese Einsicht ist auch deshalb wichtig, weil insbesondere mit der Wärmewende die Herausforderungen nah an die Bürgerinnen und Bürger heranrücken. Anders als bei der überwiegend zentral gesteuerten Stromerzeugungswende spielt sich diese Transformation vor der Haustür der Menschen ab. Regionalen Energieversorgern kommt dabei eine besondere Rolle zu. Als vor Ort tief verwurzelte Unternehmen genießen sie das Vertrauen der Bevölkerung. Auch deshalb, weil sie zur Wertschöpfung beitragen: Jeder investierte Euro stärkt das lokale Handwerk, sichert Arbeitsplätze und entlastet über Konzessionsabgaben, Steuern und Gewinnbeteiligungen die kommunalen Haushalte.
Als Nachfolger der Pioniere, die einst die ersten Strom-, Gas- und Wasserleitungen verlegten, müssen die Regionalversorger die Menschen nun mitnehmen auf dem Weg in die nächste Energie-Epoche. Das wird mit manchen Unbequemlichkeiten oder gar Zumutungen für den Einzelnen verbunden sein. Aber je mehr Freiräume die Politik den Energieunternehmen beim größten Infrastrukturumbau der Nachkriegszeit zubilligt, umso besser stehen die Chancen, dass die Bevölkerung mitzieht.
Mehr Pareto, weniger Perfektionismus
Ohnehin sollte Akzeptanz die Richtschnur sein für lokale Energiewende-Maßnahmen. Die Kundenperspektive ist ein guter Kompass. Wenn der Klimaschutz frei Haus kommen soll: Was sind dann faire Preise? Wo liegt die Toleranzschwelle für Einschränkungen durch Jahre andauernde Aus- und Umbauvorhaben? Effizienz bei Finanzierung und Zubau müssen hier das unbedingte Ziel sein, damit die Menschen bei der Stange bleiben. Dafür braucht es Mut zu Lösungen nach dem Pareto-Prinzip: vielleicht nicht hundertprozentig nach Lehrbuch durchgeplant, aber dafür deutlich schneller umsetzbar. Statt zum Beispiel, wie heute noch üblich, einzelne Versorgungsleitungen nacheinander auszubauen, sollten in einem Viertel alle gleichzeitig erneuert werden. Das schont Ressourcen, und die Nerven von Anwohnenden und Gewerbetreibenden gleich mit.
Vernunft statt Ideologie kann ebenfalls helfen, Rückhalt für die Energiewende zu sichern, etwa in Gestalt von Hybridheizungen: Nicht alle Gasheizungen müssen auf einen Schlag durch Wärmepumpen ersetzt werden. Stattdessen kann die Kombination aus kleiner Wärmepumpe und bestehender Gasheizung als Übergangslösung dienen. Erstere läuft, solange sie effizient arbeitet. An sehr kalten Tagen springt die Gasheizung ein. So können wir die Stromnetzbelastung mindern und zugleich mehr Haushalte mit klimafreundlicherer Heiztechnik ausstatten.
Systemstabilität ist dabei immer die Maßgabe. Die Mehrheit der Kundinnen und Kunden wurde in einer Energiewelt sozialisiert, die Leistungen bequem und zuverlässig liefert. Bei aller Begeisterung für eine spielerische Energiewende-Teilhabe per Smartphone: Die meisten Menschen wünschen sich schlicht Convenience. Diesen Komfort auch unter der Energiewende sicherzustellen, bleibt Kernauftrag regionaler Versorgungsunternehmen.
Momentum nutzen
Bei aller Beständigkeit sind aber auch Innovationsgeist und Einfallsreichtum gefragt. Projekte, deren Klima-Sinnhaftigkeit sich den Bürgerinnen und Bürgern unmittelbar erschließt, sind ein Türöffner zur Akzeptanz der Energiewende. Ein Beispiel dafür ist die Nutzung von Abwärme aus Rechenzentren für die Fernwärmeversorgung. Frankfurt als europäischer IT-Knotenpunkt bietet hier enormes Potenzial. Die Technik existiert bereits und ermöglicht eine sinnvolle Kreislaufwirtschaft: Was für Rechenzentren ein Abfallprodukt ist, wird im Fernwärmenetz zur wertvollen Ressource.
Die Ideen sind da, zur Umsetzung braucht es vernünftige, unbürokratische Rahmenbedingungen. Eine Politik, die Unternehmen nicht in die Speichen greift, ist zu begrüßen. Sie zeugt von Vertrauen in eine Branche, die ihr Geschäft und die Gegebenheiten vor Ort am besten kennt. Die neue Bundesregierung scheint verstanden zu haben. Möge sie das Momentum nutzen.